Dieter Call & Anja Voigt "Mobile Forschungsstation"

Aktionsforschung

„Die menschliche Praxis ist Arbeit am und im Gegenwärtigen durch umgestaltende ‚Aufhebung’der Vergangenheit in vorgreifender Sorge um die Zukunft.“
Herbert Marcuse


Die künstlerische Praxis der gemeinschaftlichen Arbeit von Anja Voigt und Dieter Call ist in Grenzbereichen aktiv, in denen konventionelle Kunstformen nicht operieren. Diese Grenzbereiche lassen sich zum einen in Bereichen der Kooperation, deren Methoden und Handlungsformen, zum anderen im Umgang mit räumlichen Zuständen, verorten. Die Mobile Forschungsstation ist einerseits eine künstlerische Raumpraxis, zum anderen, die Metapher der gemeinsamen Aktivitäten einer Sozialen Plastik. Die Empirik des gemeinsamen Forschens beruht auf der Beharrlichkeit sich den fragwürdigen Raumverhältnissen und Konstellationen unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, wieder und wieder zu stellen, diese zu erfahren und weiter zu bearbeiten. Anja Voigt und Dieter Call operieren in der promenadologischen Tradition, die schon bekannten Methoden und Werkzeuge so zu erweitern, dass sie in der akuten Situation, Wirkung zeigen und neue Aspekte veranschaulichen.

SAR steht ursprünglich für das ‚Search And Rescue’ der internationalen Rettungskräfte, wird jedoch projektbedingt vom S_A_R Projektbüro Völklingen, deren Gründungsmitglieder Anja Voigt und Dieter Call sind, situativ in: Sculpture-Art-Research, Stadt-Aktion-Raum, Savety-Attention-Relation usw. umgewandelt. Ebenfalls aus dem Katastrophenschutz kommt eine Organisationsform, die sich ideal mit der Praxis künstlerischer Selbstorganisation in Verbindung bringt: Emergente Organisations-Netzwerke (emergent organizational networks - emon). Emergenz meint hier die unerwartete Einflussnahme der Basis auf ein System, dass in Schwierigkeiten geraten ist oder sich in einer Übergansphase befindet. Darunter verstehen wir, sich ad hoc also spontan bildende organisatorische Verflechtungen mit flacher Hierarche, die direkt auf eine lokale Situation, Thematik im schlimmsten Fall eine Katastrophe einwirken und deren Zusammenhalt der unmittelbaren Sachlage geschuldet ist. Die EMON’s arbeiten oft unabhängig staatlicher Organisationen, auf eigene Faust, eigene Verantwortung, ortskundig, flexibel und belastbar. Staatliche Stellen, Regierungen, die nicht mehr regieren können, Verwaltungen, die sich in der Bürokratie verirrt haben und Andere sind bei Schwierigkeiten auf Unterstützung durch die EMON’s angewiesen.

Bei der Transformation des Max-von-Schillings Platzes, einer Arbeit von Dieter Call & Anja Voigt, wo über mehrere Jahre hinweg, bis zur gänzlichen Analyse des Platzes und hier ist mit der Raum-Analyse die direkte Auflösung des Platzes gemeint, verschiedene Phasen einer psychotektonischen Landschaft bearbeitet wurden. Hierbei zeigt sich, dass künstlerische Forschung formgebende Umgestaltung sein kann. Sie ist also im Sinne der Aktionsforschung nicht nur beobachtend und recherchiert, sondern formuliert und formt. Die Aktionsforschung ‚action research’ lässt sich auf den Sozialpsychologen Kurt Lewin vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston zurückführen. Ziel war es, die Distanz einer Pseudoobjektivität zwischen den Forschern und den Forschungsgegenständen durch Verantwortung und Verbindlichkeit aufzuheben. Die Forschungsgruppe-f (Zürich) und später das S_A_R Projektbüro Völklingen übertrugen das umstrittene Feld in die künstlerische Praxis. Es wurden Situationen geschaffen, die eine Distanz zwischen den Personen aufheben, die produzieren und denen die rezipieren. Es entsteht im Idealfalle ein künstlerisches Feld der vertrauensvollen Fragwürdigkeit. Die Fragen der künstlerischen Forschung verlangen keine Antwort. Das Forschungsergebnis ist ein Zustandsraum. Die Nähe subjektiviert den grundsätzlichen Auftrag jeder Forschung, Fragen zu stellen (ahd. forscon = fragen), die sich nicht beantworten, jedoch bearbeiten lassen. Objektivität wird nicht beansprucht. Unterscheidung, Auswertung, Differenz verschwinden von der Oberfläche und tauchen in psychotektonische Zusammenhänge, die sich im besten Falle darstellen. Die Forschungsgegenstände stellen ebenso Fragen an die Forscher*innen wie umgekehrt. Die Forschung ist Gegenstand der Forschung. Die gegenseitige Beeinflussung wird zugelassen und verändert die Beteiligten. Die Mobile Forschungsstation von Dieter Call & Anja Voigt (S_A_R) sehe ich in dieser Tradition. Zur Erforschung der Wassertiere im Rhein-Neckar Verbindungskanal in Mannheim (AG AST / Arbeitsgemeinschaft Anastrophale Stadt) setzen sie eine Forschungsstation auf die Wasseroberfläche, um sich darin über einen längeren Zeitraum Tag und Nacht aufzuhalten. Es wird kein Fisch gefangen. Schwäne kreisen um die Station. Der richtige Einsatz des Wallerholzes lockt den Wels aus der Tiefe. Der Wels wird nicht gefangen, nicht fotografiert. Es entsteht ein räumliches Verhältnis, ein Bewegungs- und Handlungsablauf, ein unsichtbares Bild, eine Ahnung. Oft sind diese künstlerischen Forschungsfelder unspektakulär und verlangen Beharrlichkeit. Das Forschungsergebnis ist der offene Prozess. Der Begriff „Künstlerische Forschung“ vertritt den methodischen Ansatz der Bereitschaft, sich auf experimentelle Felder einzulassen, die noch nicht erprobt sind oder die, weil unsicher und fragwürdig, dem Wesen der künstlerischen Intension entsprechen. Ein kleiner See auf dem ein zeltartiger Raum schwimmt, Tage auf Eisenbahnschienen verbringen, Forschungsstationen, die Räume verhandeln ohne sie zu erobern...


Georg Winter
Professor für Bildhauerei / Public Art
aus dem Katalog zur Ausstellung innerhalb und außerhalb, Museum St. Wendel/ Saarland, 2019